Debakel im Atomland Frankreich
 
Strompreise bis zu 2 Franken pro kWh. 10 Mal mehr wie in der Schweiz. Im kommenden Winter drohen Strom-Abschaltungen. Der Staat muss hohe Defizite übernehmen.
 
Bericht der NZZ, 30. Juli 2022.
In Frankreich droht der Blackout. Die Strompreise sind weitaus höher als in Deutschland
Im Atomland Frankreich droht der Strom knapp zu werden. Im Vergleich zum Durchschnitt zwischen den Jahren 2010 und 2020 ist der Preis für eine Megawattstunde in Frankreich heute zehnmal so teuer. Über 500 Euro müssen Händler jetzt dafür bezahlen. In Deutschland ist der Preis weitaus niedriger und bewegt sich momentan zwischen 350 und 370 Euro.
 
Unter normalen Bedingungen liegt der Anteil der Atomenergie bei etwa 70 Prozent des französischen Energiemixes. Am Freitagnachmittag lieferten die französischen Kernkraftwerke laut dem Netzbetreiber RTE allerdings lediglich 59 Prozent des benötigten Stroms. Denn nur 26 der 57 Reaktoren sind momentan in Betrieb. Frankreich muss zunehmend auf Gaskraftwerke, Wind und Importe umsteigen. Im Sommer, wo der französische Stromverbrauch bei etwa 45 Gigawatt pro Stunde liegt, kann das noch abgefangen werden. Im Winter ist die Nachfrage allerdings etwa doppelt so hoch. Sollte der Stromverbrauch nicht substanziell sinken, wäre Frankreich das erste europäische Land, in dem die Lichter ausgehen – und nicht Deutschland.
 
Viele Reaktoren abgestellt
Wegen der extremen Temperaturen im Juli mussten viele Kernkraftwerke abgeschaltet werden. Denn das Kühlwasser, das die AKW in die Flüsse ableiten, darf laut Gesetz eine bestimmte Temperatur nicht überschreiten. An vielen Standorten, wo die Temperaturen vorige Woche teilweise bei über 40 Grad lagen, mussten die Meiler ihren Betrieb einstellen. Ausserdem sind viele der französischen Reaktoren alt und müssen überholt werden. Im Kernkraftwerk Gravelines im Norden Frankreichs hatten Ingenieure bei einer Inspektion massive Korrosionsschäden festgestellt. Die Reparaturen werden ein halbes Jahr dauern. Wegen der Corona-Pandemie wurden viele Reaktoren in Frankreich nicht gewartet. Dies wird nun nachgeholt, und es kommt zu vermehrten Ausfällen.
 
Für Privatverbraucher sind die Strompreise zwar gedeckelt, doch französische Unternehmen müssen die explodierenden Marktpreise bezahlen. Im kommenden Winter geht die Nachrichtenagentur Bloomberg daher von einem üblen Szenario aus: Der Preis der Grundlast wird im Dezember voraussichtlich auf 1000 Euro pro Megawattstunde steigen, in den Abendstunden sogar auf 2000 Euro. Das entspreche dem Doppelten der erwarteten Preise in Deutschland.
 
Stundenweise ohne Strom
Sollte im Herbst wenig Wind wehen und der Winter überdurchschnittlich kalt werden, könnte die Nachfrage das Angebot an Strom übersteigen. Dann könnte der Netzbetreiber RTE einzelnen energieintensiven Unternehmen für 15 Minuten bis hin zu einer Stunde den Strom abstellen, um das Netz zu entlasten. Die betroffenen Unternehmen erhalten dafür einen finanziellen Ausgleich. Bisher hat der französische Netzbetreiber den Mechanismus nur sehr selten eingesetzt. Zuletzt einmal im Jahr 2019 und einmal 2020. Es ist wahrscheinlich, dass der französische Netzbetreiber im Winter die höchste Energiewarnstufe ausrufen wird. In diesem Fall werden Haushalte und Unternehmen dazu angehalten, ihren Verbrauch zu reduzieren, um ein Blackout zu verhindern.
 
Der französische Staat ist bereits eingeschritten, um das Schlimmste zu verhindern: Die Regierung kündigte an, den angeschlagenen Energiekonzern EdF vollständig zu übernehmen. Vorher besass der Staat 84 Prozent der Anteile an dem Unternehmen, das alle AKW im Land betreibt. Am Donnerstag verzeichnete EdF ein Minus von über 5 Milliarden Euro im ersten Halbjahr 2022. Mit der Verstaatlichung sollen grosse Investitionen in neue Kernkraftwerke angeschoben werden.“


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